Erst Denken. Dann Fürchten!
Die Zukunft könnte ganz anders sein
Das ökologische Wandel-Paradox
Future Crunch, internationale Website für konstruktiven Journalismus. 9.8.23
Sind Sie auch der Überzeugung:
- dass der Kampf gegen die Klimakatastrophe „in Wahrheit“ verloren ist?
- dass in Sachen CO2-Reduzierung überhaupt nichts vorangeht und alle Regierungen versagen?
- dass Menschen prinzipiell unfähig sind zum Wandel.
- dass also die Zukunft verloren ist. Und sich unser Planet in eine unrettbare Gluthölle verwandeln wird?
- Nach uns die Sintfluten!
Wie kommt es eigentlich, fragt die einflussreiche Journalistin und Kolumnistin Rebecca Solnit, dass so viele Menschen lieber unentwegt und intensiv nach Gründen und Beweisen für den unweigerlichen Weltuntergang suchen, als ihre Energie in WANDEL zu investieren? Und nach praktischen Wegen für eine LÖSUNG der Klimakrise zu suchen?
Der Erneuerbare-Energien-Experte Mark Z. Jacobson twitterte neulich:
„Angesichts der Tatsache, dass Wissenschaftler, die die Entwicklung der erneuerbaren Energien studieren, die globale Energiewende sehr wohl für machbar und möglich halten, hören wir täglich auf Twitter und allen anderen Kanälen von denjenigen, die das NICHT studieren, dass es völlig unmöglich sein soll!“
Zwei Gruppen gibt es, die derzeit den Diskurs über die Ökologie- und Klimafrage dominieren:
- Denier: Die Leugner, die die Erderwärmung entweder für nicht-existent halten, oder denen es völlig egal ist, dass sich die Atmosphäre erhitzt. Verankert sind sie meist im reaktionär-rechten und rechtsradikalen Lager und nutzen die Frage der Ökologie für ihren Kulturkrieg. Sie sind in der Minderheit, aber sehr lautstark.
- Doomer: Die Verzweifelten, die den Kampf gegen die Klimakatastrophe verloren gegeben haben und sich in eine Haltung von Frustration, Wut und Hilflosigkeit zurückziehen. Sie sind in der Mehrheit, aber sehr hilflos.
Denier und Doomer liefern sich einen ständig eskalierenden Deutungskampf. Die Denier müssen dabei den defätistischen Job („Die Klimakatastrophe ist sowieso unaufhaltsam!“) gar nicht mehr machen. Das besorgen die Klima-Doomer viel besser. Die sind eher grün und progressiv, und wollen die Welt retten. Aber weil sie verzweifelt sind, machen sie den Job der Verunmöglichung besser als die Leugner. Sie glauben oft das, was in den Medien dauernd verbreitet und von „Experten“ behauptet wird: E-Autos sind eigentlich umweltschädlich. Wenn man weniger Öl verbrennt, verbrennen andere mehr. So entsteht eine Allianz der Verhinderung: Die Argumente der Doomer und Denier treffen sich in einer Art moralischem Triumphalismus: Die Doomer machen die Denier für den Untergang der Menschheit verantwortlich. Die Denier freuen sich über die Schützenhilfe bei der Darstellung des Wandels als Unmöglichkeit.
Das Tabu der guten Nachricht
Warum hören wir so wenig von positiven Veränderungen, gerade im Ökologischen?
Die erste Antwort ist einfach: Alles, was wir über die Welt erfahren, stammt aus den Medien. Positive Meldungen werden so gut wie nie wahrgenommen, weil sie kein Aufmerksamkeitspotential haben. Sie sind im Algorithmus der Erregungs-Steigerung, der „Clickbaiting-Logik“, nicht relevant.
Welche Meldung würde wohl häufiger angeklickt?
– Klimawandel führt zu immer schlimmeren Katastrophen! (Die Bilder dazu sind beeindruckend.)
Oder:
– Solarenergie wird zum weltweiten Boom! (Statistiken sind abstrakt.)
Dazu kommt die moralische Barrikade. Positive Informationen unterliegen im Kontext katastrophischer Warnungen dem Vorwurf der Verharmlosung. Wenn man sie „wahr-nimmt“, könnten das den Eindruck erwecken, „es wäre gar nicht so schlimm und man müsste gar nichts mehr tun“.
Man muss durch schlechte Nachrichten die Menschen sozusagen vor falschem Optimismus schützen.
Die Vorstellung, dass Angst, Schrecken und moralischer Druck Menschen zum Wandel motivieren, ist aber leider falsch. Auch unsere gute Greta ist in gewisser Weise an diesem Paradox gescheitert: Je mehr man sich fürchtet, desto starrer wird man. Das Anzeigen des Schlimmsten bewirkt meistens das Gegenteil: Reaktanz.
Der Dreischritt des Wandels
Gesellschaftliche Veränderungen geschehen immer in einer Art Dreischritt. Zuerst kommen starke Ideen auf, mit einer faszinierenden Aura. Zum Beispiel das „Grüne Super-Mem“, das in den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts bereits weite Teile der Gesellschaft eroberte.
Im zweiten Schritt werden die Kosten und Mühen der Transformation immer deutlicher. Es kommt zu einer Art Backlash – die „reaktionäre“ Phase. Die Schwurbel-Phase. In dieser Phase stecken wir heute fest. Es scheint, dass der ökologische Wandel zu Ende ist, weil er unentwegt „bestritten“ wird. Aber das ist eine Täuschung. Gerade in der Phase des Tumults, der Umstrittenheit, formt sich das Neue endgültig aus.
Aktualisierung schafft neue Realität
Heute sind trotz des andauernden anti-ökologischen Shitstorms 90 Prozent der Deutschen der Meinung, dass ein ökologischer Umbau unserer Wirtschafts- und Lebensweisen nötig und sinnvoll ist. Ist das nicht erstaunlich? Trotz des unentwegten Trommelfeuers, der unheiligen Allianz von Deniern, Doomern und Defätisten, sind die grundlegenden Einsichten immer noch intakt.
Hier liegt der Kern des Wandel-Paradoxes: Während Menschen verängstigt sind, sind sie doch gleichzeitig für ein Thema sensibilisiert. Sobald sich konkrete HANDLUNGS-FENSTER auftun, entscheiden sich viele Menschen zu konstruktivem Verhalten. Und so beginnt die dritte Phase der gesellschaftlichen Veränderung durch AKTUALISIERUNG: Menschen treffen Entscheidungen in ihrem privaten Umfeld, wenn diese möglich werden.
Echter Wandel, das zeigt die Geschichte, kann ganz klein anfangen. Und dann zu einem großen Strom zusammenfließen.
Positive Tipping Points
Eine besondere Rolle spielen beim Übergang in ein neues Prinzip die Tipping Points. Tipping Points kennen wir normalerweise nur aus katastrophischen Zusammenhängen: beim Schmelzen der Eiskappen, beim Umdrehen des Golfstroms. Es gibt aber auch POSITIVE Tipping Points. Punkte, an denen Durchbrüche stattfinden, die sich gegenseitig verstärken und dann nicht mehr aufzuhalten sind.
Solche Akzelerationen geschehen gerade in der Energiewende. Die Erneuerbaren sind deutlichen an einem Tipping Point nach oben angekommen.
Der Solar-Turbo
Die Absatzzahlen für Solaranlagen auf Privathäusern (aber auch bei größeren Maßstäben) gehen seit etwa einem Jahr steil nach oben. Ein regelrechter Solar-Boom ist entstanden. Dabei spielen Mikro-Balkon-Anlagen eine Rolle, aber vor allem der Markteintritt großer Solar-Anbieter, die die Installation auf Privathäusern preiswert und komfortabel machen. Oder gar Leasing-Modelle anbieten.
Der Anteil des erneuerbaren Stroms in Deutschland hat sich in diesem Sommer drastisch erhöht, im Schnitt zwischen 15 und 20 Prozent.
Das ist deutlich mehr, als wir für das 80-Prozent-Ziel für das Jahr 2030, das die deutsche Bundesregierung ausgegeben hat, benötigen würden.
Der geplante Zuwachs bei Windkraftwerken liegt zwar immer noch unter der Ziellinie (um ca. 15 Prozent), die beschleunigten Genehmigungen kommen erst langsam in Gang. Dafür liegt die Solar-Installation mehr als 20 Prozent ÜBER Kurs!
Screenshot: infothek.bmk.gv.at
Wärmepumpen-Boom
Wärmepumpen waren – erinnern Sie sich? – vor einigen Monaten das Allerletzte. Nicht erhältlich, teuer, will keiner haben, schlechte Technik. Habecks Wolkenkuckucksheim. Jetzt wurde in deutschen Medien berichtet, dass Wärmepumpen „starke Einbrüche” erleben. Stimmt das? Gesunken sind die Anträge auf staatliche Zuschüsse – vor allem weil es noch kein fertiges Gesetz gibt. Der private Markt für Wärmepumpen hingegen boomt. Die Hersteller stellen sich international auf, bauen neue Werke, die Preise sind am Fallen.
Screenshot: www.nuernberg.de
Elektroautos boomen „trotzdem“
Lesen Sie auch überall, dass Elektroautos sich nicht verkaufen? Stimmt nur nicht. Angela Merkel wurde ausgelacht, als sie vor zehn Jahren das Ziel von 1 Million E-Autos auf deutschen Straßen 2020 ausgab. Heute, drei Jahre später sind es 2 Millionen, allerdings mit Hybrid-Fahrzeugen (was sich aber demnächst ändert). In Bezug auf die Gesamtflotte sind das immer noch nur 2 Prozent, aber durch positive Tipping Points kann sich der Zuwachs leicht pro Jahr verdoppeln.
Screenshot: de.statista.com
Rechnen wir: 2-4-8-16-32 … Damit wären 15 Millionen E-Autos im Jahr 2030 leicht zu schaffen… Nein, so steil wird es nicht nach oben gehen. Aber selbst, wenn es nur 10 Millionen wären, wäre das auch schon ganz gut! In den 30er Jahren könnte es dann ganz schnell gehen. Ab dann gilt die Regel des kulminierten Kipp-Punkts: Ab einer gewissen Schwelle will keiner mehr einen rumpeligen Brenner fahren. Selbst die FDP nicht.
Es entsteht sozusagen ein Neues Normal.
In China sind über ein Drittel der Neukäufe inzwischen elektrisch – die Hälfte aller Elektroautos weltweit fahren auf chinesischen Straßen (an die 20 Millionen). China geht den „Norway Way“ (dort sind 90 Prozent der Neukäufe heute elektrisch). China droht ein Autohändlersterben – weil die Händler auf Verbrennermodellen sitzenbleiben. Einer der Gründe ist die neue chinesische Abgasnorm 6b. Sie soll dafür sorgen, dass die chinesischen Städte smogfrei werden und ist strenger als die EU-Norm 7.
Die neuen Emissionsstandards der amerikanischen Umweltbehörde zielen darauf, dass mehr als die Hälfte aller Neuwagenkäufe 2030 an E-Autos gehen. EPA-Chef Michael S. Regan: „Leute, die Elektroautos kaufen, werden über die Lebensdauer der Fahrzeuge hinweg Einsparungen sehen, weil sie nichts für Benzin und wenig für Wartung ausgeben müssen.“
Screenshot: twitter.com/Emma_Marris
In den ärmeren Schwellenländern sind Rikschas und Dreirad-Fahrzeuge Durchbruch-Träger bei der E-Mobilität. 2025 sollen allein in Indien 70 bis 80 Prozent der knatternden Zweitakter, die einen Großteil des urbanen Verkehrs in den Schwellenländern ausmachen, elektrisch fahren – heute sind es schon 50 Prozent. In vielen anderen Ländern, Indonesien, Sri Lanka, ist ebenfalls ein gewaltiger Boom für E-Rikschas entstanden.
www.mckinsey.com
Der grüne Energieboom weltweit
In den Wüstengebieten der Erde werden im Moment hunderte von gigantischen Solarkraftwerken gebaut, die durch ständige Absenkung der Kosten eine relevante Wasserstoffproduktion immer wahrscheinlicher machen. Das größte Kraftwerk (in China) hat eine Fläche von 64 Quadratkilometern. Bis 2030 schätzt man ein Gesamtvolumen von 6000 GW Wind und 5000 GW Strom. Neue Techniken ermöglichen die Stromproduktion zunehmend auch in der Nacht.
Von Hannah Richtie, Max Roser – Our World in Data: ourworldindata.org, CC BY 3.0, commons.wikimedia.org
Die globale Stromproduktion hat einen »erneuerbaren Kipppunkt« erreicht: 2023 wird der globale Zubau CO&sub2;-neutraler Energieversorgung erstmals größer sein als die Zunahme des globalen Energieverbrauchs (Ember:) „Das Wachstum in Wind- und Solarerzeugung allein (plus 557 Terawattstunden) reichte für 80 Prozent des Nachfragewachstums im Jahr 2022 (plus 694 Terawattstunden). Im Jahr 2023 wird das Wachstum sauberer Energie wahrscheinlich das Nachfragewachstum übertreffen.”
Wir sind weiter, als wir fürchten…
In seiner neuesten Meta-Studie hat das Rocky Mountain Institut, gegründet vom bekannten Ökologen Amory Lovins, die positiven Trends der weltweiten Dekarbonisierungs-Anstrengungen zusammengefasst. Fazit: Wir sind noch lange nicht am Ziel – aber viel weiter als wir fürchteten. Erneuerbare Energien und Dekarbonisierungs-Techniken erleben weltweit an vielen Fronten einen Durchbruch. Hier die Schlüssel-Charts:
Screenshot: rmi.org
Screenshot: rmi.org
Screenshot: rmi.org
Quelle: RMI: The Renewable Revolution
Der Amazonaswald hat in den Bolsonaro-Jahren schwer gelitten. Jetzt aber tragen die Anstrengungen der neuen Regierung, illegale Goldminen und Rodungen zu verhindern und den indigenen Gruppen wieder mehr Selbstverwaltungsrechte gegeben zu haben, Fürchte. Die diesjährigen Waldverluste werden um ca. 60 Prozent unter den letzten Jahren liegen, Tendenz weiter sinkend. Übrigens waren die Rodungen des Amazonaswaldes vor 20 Jahren noch viel höher als in der Bolsonaro-Zeit.
Screenshot: © Spiegel Wissenschaft
Siehe auch: www.spektrum.de
Holen Sie am Ende dieses kleinen Kognitions-Experiments tief Luft.
Und lassen Sie Ihr ABER heraus:
- ABER diese Zahlen sind ja viel zu optimistisch. Stimmen die überhaupt?
- ABER die globale Erwärmung schreitet ja weiter voran…
- ABER die Ölkonzerne sind ja so ungeheuer mächtig…
- ABER das reicht ja noch lange nicht…
Stimmt.
ABER denken Sie bitte jetzt noch einmal darüber nach, welche Funktion das ABER für die Zukunft hat.
Wäre es nicht besser, das Gelingende anzuerkennen? Es wahr-zunehmen und auch zu genießen? Das Schlechte dabei nicht schönzureden, es aber nicht auf Dauer zu akzeptieren?
Ist das nicht auch das Rezept für ein gelungenes Leben?
Und wäre das nicht besser für uns alle, die Welt, die Zukunft?
Positive Weltnachrichten in den nächsten Ausgaben:
- Indiens Geburtenrate ist fast so niedrig wie die Islands (Wussten Sie das?).
- Die Welt wird gleicher – wenn man in globalen Maßstäben denkt.
- Die Ausweitung von Naturschutzgebieten beschleunigt sich weltweit.
- China wird zum Erneuerbaren-Transformations-Vorreiter (Schock!).
- Der Kampf gegen Plastik feiert in Afrika Erfolge.
- Die Menschheit macht erstaunliche Fortschritte beim Zugang zu Wasser-, Sanitär- und Hygiene-Zugängen.
Leseempfehlung:
Ein ähnlicher Ansatz wie Maya Göpel oder andere öko-positive Ansätze: Der Versuch, die Transformation unserer Zeit mit neuer (erneuerbarer) geistiger Energie zu versorgen.
Zwei schöne Zitate zum Schluss:
Hope is not optimism. Optimism assumes the best, and assumes its inevitability, which leads to passivity, as do the pessimism and cynicism that assume the worst. Hope, like love, means taking risks and being vulnerable to being and being vulnerable to the effects of loss. It means recognizing the uncertainty of the future and making a commitment to try to shaping it.
„Es geht darum, von einem angstgesteuerten und konfusen Diskurs, der nur zur Apathie und Hysterie führt, zu einem zuversichtlichen Verständnis der Möglichkeiten zu kommen.“
Chad Frischman, Chairman des „Project Drawdown“, einer neuen systemischen CO2-Reduzierungs-Initiative, in einem TED-Vortrag 2018
Erst Denken. Dann Fürchten!
Ihr Matthias Horx
„Dieser Text stammt aus der Zukunfts-Kolumne von Matthias Horx: www.horx.com/die-zukunfts-kolumne”